Henrike
Bröses künstlerisches Element und Medium ist seit jeher
die Zeichnung. Unter den neueren Arbeiten treten dazu erstmals Aquarelle.
Sie sind ausnahmlos auf der Ostseeinsel Öland entstanden, wo
die Künstlerin seit langem regelmäßig höchst
produktive Arbeitsaufenhalte genießt. Die Arbeiten sind angeregt
von der sommerlich-leichten Atmosphäre der fast südlichen
Insel, ihrem Licht, ihren sagenhaften Steinmonumenten und deren
zeichenhaften Strukturen; auch wenn sie sich dem Betrachter vordergründig
nicht als einem festen geographischen Ort zuschreibbare Landschaftsbilder
zu erkennen geben.
Denn - ob das Medium nun die Zeichnung ist oder das Aquarell - Henrike
Bröses leitmotivisches Thema ist der Körper. Das Motto
der Ausstellung weist darauf hin: In diesem zeichnerischen opus
sind Körper Rumpf, sind Körpermitte, Lebensmitte. Visuelle
Eindrücke verwandeln sich hier fast ausnahmslos in Körper
- gleich, ob das Sujet von schwedischer Landschaft inspiriert ist,
z.B. vom Besuch einer öländischen Mühle
(1995) oder von "Odens Flisor"
(Odins Steinen, 1996), ob von den Menschenfiguren des Alltags auf
dem Münchner Campus, wie der "Mann
mit Visier" (1997 und 1998), von Musik, wie im "Streichquartett"
(1992) oder von literarischen Texten, wie z.B. in der Arbeit "Closer
to her shadow" (1992) nach einem Gedicht von Felix Pollack,
einem Blatt, auf dem der Körper einer Frau sich höchst
eindrucksvoll immer tiefer seinem eigenen Schatten entgegenkrümmt.
Als
gegenständliche Objekte sind diese Sujets à priori nicht
mehr zu erkennen. Sie haben die Metamorphose zum Körperfragment
durchlaufen. Sieht man näher hin, so ist der Zusammenhang dieser
Bildwelt mit dem Fundus klassischer Motive ganz offensichtlich:
mit den Torsi der Antike "Vid
Havet" (Am Meer, 1997) oder dem "Barberinischen
Faun" (2000) der in mehreren Blättern fragmentiert
zu entdecken ist.
Klassisch mutet auch der Zeichenstil an: der souveräne Strich,
die klare, reine Linie. Sie allerdings hat sich in den letzten Jahren
stark verändert, eine Entwicklung, die ich nun seit ca 20 Jahren
mit freundschaftlich-kritischer Neugier und Sympathie verfolge.
Henrike Bröses Strich ist entschiedener geworden, auch durch
die Verwendung anderer Zeichenmaterialien; so treten z.B. Kreide
und Tinte zum Bleistift, grobe Packpapiere anstelle des reinweißen
Zeichenkartons; das Schwarz-Weiß der Zeichnung wird nun von
einer delikaten Farbigkeit ergänzt, wenn auch immer sparsam.
Auch die Formate haben sich verändert, dem entschiedeneren
Strich entsprechend sind sie größer geworden. Geblieben
ist der durchgängige Hang zum Hochformat, auch wenn das den
Interessen der Galerien nicht immer entgegenkommen mag. Dort nämlich
kennt man die Vorliebe der Kunden für Querformate - wegen der
beliebten Hängeplätze über der Wohnzimmer-Couch.
Das Hochformat aber entspricht dem Umriß des Körperrumpfs.
Und der ist nun einmal Henrike Bröses Thema.
Das
Fragmentarische dieser Körper, deren Schwerpunkt nicht immer
unbedingt innerhalb des Blattrahmens liegt, entspricht der Vorliebe
der Künstlerin fürs "open end", das, was man
in der Literaturwissenschaft den "offenen Schluß"
nennt. So weigert sich Henrike Bröse auch, ihren Bildern eindeutigen
Sinn zuzuschreiben und sie darauf festzulegen. Als Betrachter wünscht
sie sich Menschen, die sich ihre Bilder durchs eigene Schauen selbst
erschließen - ganz im Gegensatz zum derzeit für die gebildeten
unter den Kunstbetrachtern so beliebten didaktischen Motto: "Man
sieht nur, was man weiß".
Dieser echt aufklärerische Satz, der übrigens von Fontane
stammt und vom Dumont Verlag adaptiert wurde, ist ursprünglich
geprägt für Fontanes historische Wanderungen durch die
Mark Brandenburg, wo man nun in der Tat mehr sieht, wenn man was
weiß.
Henrike Bröse lehnt solche verstandesmäßige Festlegung
für die Augenwanderung durch ihre Bilder ab. Läge ihr
an theoretischer Fundierung ihrer Arbeit, sie neigte wohl eher zur
Auffassung der Strukturalisten, die im Text (auch dem des Bildes)
einen lebendigen, ständiger Veränderung unterworfenen
Organismus mit eigenständigen Strukturen sehen; Strukturen,
die sich immer neu erschaffen - im schöpferischen Entstehungsprozeß
ebenso wie in dem des Betrachtens. In Henrike Bröses Bildern
wird dieser Prozeß auch dadurch immer wieder vor Augen geführt,
daß Motive sich in gewandelter, veränderter Form stets
neu präsentiern und auch mit Komplementärentwürfen
konfrontiert werden - wahrhaft ein "open end" für
Bilder und Bildtexte.